PPB und TwentySixDie einundzwanzigjährige Emily genießt ihr exzessives Leben. Sie ist wild, spontan und unkontrollierbar. Eines Tages will sie beweisen, dass sie jeden Kerl rumkriegen kann und gerät an den vierundsechzigjährigen William, der beim Sex mit ihr einen Herzanfall bekommt. Anstatt zu helfen, beleidigt sie ihn und überlässt ihn sich selbst. Noch am selben Tag erleidet Emily einen schweren Unfall und landet im Rollstuhl. Ihr Lebensmut verlässt sie. Verbittert und suizidgefährdet strapaziert sie Freunde und Pfleger. Als niemand mehr mit ihr zusammenarbeiten will, bekommt sie einen neuen Arzt zugewiesen. Es ist William.Drama / ca 240 SeitenTaschenbuch ISBN: 978-3740786991eBook: ISBN: 978-3740798185Hörprobe:Leseproben
Einleitende Worte
Jede Begegnung ist ein Augenblick, eine Momentaufnahme des flüchtigen Blickes und allzu oft mit Vorurteilen besetzt oder inhaltslos. Sie ist nichts weiter, als ein winziger Auszug der Bedeutungslosigkeit selbst. Dabei ahnen wir nicht im Entferntesten, welche Wunder sich hinter den einzelnen Menschen verbergen, welche Schicksale, Hoffnungen, Talente und phantastische Geschichten sie in sich tragen.Aber manchmal, wenn wir aufmerksam sind oder die Zeit gekommen ist, dürfen wir einen Teil dieser Geschichten werden. Und wenn das geschieht, ist es genau der Augenblick, an dem ein neues Wunder beginnt.
Prolog
Alles war dafür gemacht, zerstört zu werden oder verloren zu gehen. Zweifellos konnte diese Tatsache nicht die optimale Grundlage für ein erfülltes Menschenleben sein. In Zeiten der Ruhe und des besinnlichen Rückblicks offenbarte sie gar eine gewisse Sinnlosigkeit des eigenen Seins. Vornehmlich traf das für schwierige Lebensumstände zu, saß aber gleichermaßen im trügerischen Detail des Gewöhnlichen wie eine Spinne in ihrem Versteck, einem verlorengegangenen Notizzettel oder einer defekten Taschenlampe bei Stromausfall. Das Leben handelte vom Neubeginn und der Zerstörung. Seit Jahrmillionen hatte nichts anderes Bestand auf dieser Welt. Nur dominierte bei der jungen Emily der Zerfall, als würde er ihr nachstellen. Was sie anfasste, zerbrach unter ihren Händen.An diesem Abend dachte Emily viel nach und hatte die Idee, dass hinter dem Leben und all den Dingen auf der Welt eine größere Bedeutung stecken musste. Da ihr bisher niemand eine vernünftige Antwort darauf geben konnte, machte sie sich auf den Weg, um hinter das Geheimnis des Lebens zu kommen. Die Suche nach der Wahrheit dauerte Monate und Jahre, überschattete ihre ereignisreiche Jugend, bis sie im Sumpf der Erschöpfung ihr Ziel aus den Augen verlor. Und dann geschah etwas Furchtbares, das ihr Leben auf eine Weise ändern sollte, mit dem sie nie gerechnet hätte.-Nachdenklich legte Emily ihren schmalen Finger an die Lippen und sah zwischen den großen Eschen vorbei auf das blaue Meer hinaus. Die Sonne bildete schillernde Sternchen in ihrem dunkelrot gefärbten Haar. Sie musste blinzeln, nickte sanft und dachte an die alten Zeiten, als ihr Körper noch zu ihr gehörte, sie laufen konnte und nicht an den Rollstuhl gefesselt war.„Essen Sie etwas“, sagte die Schwester und riss sie damit aus den Gedanken. Sie hielt ihr einen Teller mit zwei belegten Brotscheiben und einem Apfel entgegen.Emily drehte ihren Kopf weg. Was spielte in ihrer Situation Essen für eine Rolle? Die Sonne blendete und es roch nach Pinienzapfen.„Nun machen Sie schon, Miss Emily Jensen. Sie brauchen Kraft für diesen herrlichen Tag.“Emilys Wangenknochen bebten und sie sah mit zusammengekniffenen Augen zu der Schwester.„Gib den Fraß den Leuten, die ein Leben haben“, sagte sie schnippisch und wartete auf ihre Reaktion.„Es gibt viele Menschen, die nicht laufen können und durchaus damit klarkommen. Ich kenne ausgezeichnete Künstler, Musiker und berühmte Maler, die trotz gewaltiger Einschränkung großartige Dinge erschaffen haben. Vergessen Sie nicht, dass es nur Ihre Beine sind. Das Leben ...“Emily unterbrach sie mit verschränkten Armen. „Hast du irgendetwas am Kopf, oder wieso kapierst du es nicht?“ Verachtend zeigte sie an sich herunter zu den Beinen, die nutzlos und seit dem speziellen Tag zu einer Last geworden waren.„Der Anfang ist immer schwer. Geben Sie die Hoffnung nicht auf. Und jetzt essen Sie ein wenig, dann machen wir Ihre Übungen. Vielleicht können Sie schon in ein paar Monaten wieder laufen.“ Die Schwester hielt ihr geduldig den Teller entgegen.„Wenn du mir wirklich helfen willst, schiebst du mich nach vorn.“ Emily zeigte zur Küste. „Einfach bis zur Klippe. Den Rest erledige ich selbst.“„Das werde ich gewiss nicht tun, junge Dame“, sagte die Schwester eindringlich und stellte den Teller auf Emilys Oberschenkeln ab. „Auch wenn Sie derzeit die Sonne in ihrem Herzen nicht spüren können, wärmt sie die Welt und wartet darauf, dass Sie wieder ihr Licht sehen. Das Leben geht weiter. Und es ist schön. Auch für Sie. Vertrauen Sie mir.Im Übrigen dreht sich nicht alles um Sie. Andere haben größere Probleme, also jammern Sie nicht herum. Ich lasse Sie jetzt alleine.“ Die Schwester wandte sich ab und eilte ohne einen weiteren Versuch, Emily umzustimmen, zur Klinik davon.„Du hast etwas vergessen!“, schrie Emily und warf ihr den Teller hinterher. Die ansprechend belegten Brote verteilten sich im Gras. Rollend überholte der Teller die Schwester, die sich aufgebracht zu ihr umdrehte.„Man sollte Ihnen den Hintern versohlen“, rief sie und sammelte den Teller und die Brotscheiben ein.„Dann komm doch, alte Schachtel! Versuche es nur“, brüllte Emily, ließ den Kopf hängen und fügte leise hinzu: „Dann wäre dieser Körperteil wenigstens zu etwas zu gebrauchen.“Sie wischte ein Stück Käse von der Hose, verschmierte ihn, zog einen Flunsch und bekam einen Wutanfall. Gefrustet rüttelte sie an dem lästigen Rollstuhl und keuchte: „Ich weiß, wann es vorbei ist.“ Emily atmete schwer durch.Die Luft war salzig und frisch und der Wind trug den Geruch von toten Fischen und Algen herüber. Ihr Magen knurrte, doch der Kummer war stärker als Hunger, und sie hatte den Entschluss gefasst, es jetzt zu Ende zu bringen.Mit dem Zeigefinger schob sie den kleinen Hebel auf Sitzhöhe des Rollstuhls nach vorn und die Räder waren frei. Kräftig stemmte sie sich gegen den Handlauf auf beiden Seiten. Die Wiese war flach und akkurat gemäht, aber mit den schmalen Rädern kam sie nur beschwerlich voran. Jeder einzelne Meter, mit diesem störrischen Teil verlangte enorme Kraft. Sie beugte sich vor, umfasste den Handlauf der Räder und steigerte verärgert den Schwung.Zwischen den Eschen und Mahonien verliefen große graue Gehwegplatten, die zu Holzbänken führten, die weiter vorne im Kreis angeordnet waren und im Schutz der alten Büsche des Öfteren heimlich von Rauchern genutzt wurden.Um diese Zeit waren die meisten Patienten bei Therapien oder in ihren Zimmern, weswegen der Park nahezu verlassen war. Nur ein alter Mann saß einsam dort auf einer Bank. Er hatte die Augen geschlossen, die Arme verschränkt und das Gesicht zur Sonne gereckt. Neben ihm lehnten zwei Krücken an der Bank und sein geschientes Bein stand sperrig ab.Emily brauchte eine Pause. Sie schüttelte ihre Arme aus.Der Typ hatte wenigstens noch ein gesundes Bein, und sie spürte nicht mal ihre Hüfte. Gewiss würde er es irgendwann schaffen, hatte eine Zukunft vor sich - er und die meisten anderen, die hier untergebracht waren.Sie verzog den Mund, schnaubte und rollte weiter, steckte die ganze Kraft ihres Oberkörpers in die Arme und bewegte die Räder, als wären sie Mühlsteine. Nach dem Plattenweg holperte sie mit dem Rollstuhl über die Grasnarbe bis nach vorn zum Geländer. Hier sah sie sich um. Diese Stelle hinter den Büschen konnte niemand vom Haupthaus einsehen, nicht einmal der Kerl mit dem geschienten Bein. So hatte sie genug Zeit, nach vorn zu kriechen und Abschied zu nehmen.Ungelenk ließ sich Emily aus dem Stuhl gleiten. Ohne die Kraft ihrer Beine war es unglaublich beschwerlich, den eigenen Körper zu bewegen und unter dem Geländer hindurchzuziehen. Früher brachte Emily nicht mal zwei ordentliche Liegestütze hintereinander zustande, und jetzt musste sie Höchstleistungen vollbringen.Keuchend und mit schmerzenden Muskeln in den Oberarmen fluchte und jammerte sie. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen und sie verteufelte jeden Zentimeter, den sie vor sich hatte. Und genau diese Tatsache verdeutlichte ihr jämmerliches Leben, die Sinnlosigkeit des Seins und das eines unvollständigen Menschen.Die scharfkantigen Steine schmerzten an den Handflächen und den Ellenbogen. Ein Schuh verhakte sich im Gestrüpp und hielt sie fest, wie eine Hand, die sie zurückhalten wollte. Verärgert zerrte sie am Hosenbein, griff unter ihr Kniegelenk und ruckte am Bein.„Verdammt!“, knirschte sie.Der Schuh blieb fest verhakt und ein halber Meter lag noch zwischen ihrem jämmerlichen Leben und der Erlösung. Entkräftet legte sie ihren Kopf auf den harten scharfkantigen Steinen ab, sammelte Kraft und spürte das Zusammenspiel der wärmenden Sonne und den Geräuschen der Welt mit den Wellen, die gegen die Brandung schlugen. Kreischende Möwen und das Rauschen der Blätter erreichten ihren Verstand sowie versöhnliche Düfte des Meeres garnierten ihre Wahrnehmung.Prinzipiell war die Welt gar nicht so übel. Nur leider war sie für andere gemacht, diejenigen, die ihre Portion vom Glück abbekommen hatten, ein kleines Haus, einen Lebenspartner und einen Job, den sie vielleicht sogar mochten. Auch Emily hatte ihre Zeit, aber diese war seit dem Unfall abgelaufen.Sie hob ihren Kopf, atmete tief durch und drehte sich auf die Seite, riss wieder an ihrem Bein und konnte den Fuß aus dem Schuh ziehen.Ihre Hände waren staubig und zerschnitten, und eine blutige Schramme in ihrem Gesicht schmerzte, als hätte sie einen schweren Kampf hinter sich.Sie schob sich weiter voran, erreichte den Felsvorsprung und hielt inne. Weit unten lagen dunkle nasse Felsen. Sie waren abgebrochen und ragten scharfkantig und hart wie furchteinflößende Zähne empor, die nach ihr zu lechzen schienen und ihr begierig zuwinkten. Zwölf Meter freier Fall sollten genügen. Schließlich waren die Dinge und das Leben selbst dafür gemacht, für immer verloren zu gehen.
Rezensionen
„Im Nachhinein beschäftigt mich
das Buch immer noch.“
Es ist eine wahnsinnig genial geschriebene Geschichte. Sie ist stimmig! Ich war hin und her gerissen zwischen: undankbare zickige Göre, und armes verzweifeltes Mädchen. Zwischen: er tut mir Leid und was ist sein Geheimnis? Irgendwas ist doch komisch.Und verdammt nochmal,warum will ihr niemand zuhören? Warum muss er ins Gefängnis?Und bevor ich zur anderen Seite der Medaille gewechselt hab, empfand ich das Ganze so ungerecht! Dann las ich Abends weiter. Und Fassungslosigkeit ergriff mich.Jetzt im Nachhinein beschäftigt mich das Buch immer noch. Ich komme mir fast vor, wie so ein Profiler. Versuche zu analysieren... Gab es versteckte Hinweise? Hab ich etwas überlesen?Das Buch ist so genial geschrieben! Niemals wäre ich auf das Ende gekommenen. Habe es nicht erwartet!Ich ziehe meinen imaginären Hut. (Steffi Eckhoff-Emme / Testleserbuch)
„Kolossale Wende“
Eine starke, sicher aktuelle und psychologisch wertvolle Geschichte. Ich bin sprachlos und ein bissel überwältigt. Die Spannung wurde zur kolossalen Wende mit ein paar erlösenden Tränen getoppt. (Karen Böttcher)
„Zuerst Zorn, dann Mitleid“
Anfangs packte mich regelrecht der Zorn auf das Mädchen. Mitleid mit dem älteren Mann, mitten drin bekam ich Mitleid mit dem Mädchen und fand den Mann dann irgendwie eigenartig. Zum Schluss hin hat sich das Blatt komplett gewendet.Ich habe nicht mit diesem Ende gerechnet und dachte es würde etwas anderes dahinter stecken, anders ausgehen.Das Buch ist wirklich lesenswert. Ich kann es nur empfehlen. (Estrella H FA)
„Überraschend - definitiv zu
empfehlen!“
Orchideen im Wind war für mich eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Die Hauptcharaktere, Emily und William, werden detailreich beschrieben und sind sehr interessant. Emily erleidet einen Unfall, sitzt nun im Rollstuhl und muss erstmal lernen damit zurecht zu kommen. Ich möchte hier nicht zu viel verraten: Die Wendung im Buch kam für mich total unvorbereitet und überraschend. Für mich macht das ein gutes Buch aus! Zwischendurch dachte ich, es wäre ziemlich vorhersehbar was passieren würde. Aber nein. Es kam ganz anders als ich dachte. Es lohnt sich definitiv das Buch zu lesen! (CatLady)
„Das Ende verändert alles“
Emily durchlebt die Hölle, weigert sich zunächst, ihr Schicksal zu akzeptieren - doch die tatsächliche Entwicklung der Dinge und was sich wirklich erst am Ende abzeichnet, lässt den Leser perplex zurück. Ein interessantes Buch, ungewöhnlich, auch herausfordernd, auf alle Fälle lesenswert. (marreh)
PPB und TwentySixDie einundzwanzigjährige Emily genießt ihr exzessives Leben. Sie ist wild, spontan und unkontrollierbar. Eines Tages will sie beweisen, dass sie jeden Kerl rumkriegen kann und gerät an den vierundsechzigjährigen William, der beim Sex mit ihr einen Herzanfall bekommt. Anstatt zu helfen, beleidigt sie ihn und überlässt ihn sich selbst. Noch am selben Tag erleidet Emily einen schweren Unfall und landet im Rollstuhl. Ihr Lebensmut verlässt sie. Verbittert und suizidgefährdet strapaziert sie Freunde und Pfleger. Als niemand mehr mit ihr zusammenarbeiten will, bekommt sie einen neuen Arzt zugewiesen. Es ist William.Drama / ca 240 SeitenTaschenbuch ISBN: 978-3740786991eBook: ISBN: 978-3740798185Hörprobe:Leseproben
Einleitende Worte
Jede Begegnung ist ein Augenblick, eine Momentaufnahme des flüchtigen Blickes und allzu oft mit Vorurteilen besetzt oder inhaltslos. Sie ist nichts weiter, als ein winziger Auszug der Bedeutungslosigkeit selbst. Dabei ahnen wir nicht im Entferntesten, welche Wunder sich hinter den einzelnen Menschen verbergen, welche Schicksale, Hoffnungen, Talente und phantastische Geschichten sie in sich tragen.Aber manchmal, wenn wir aufmerksam sind oder die Zeit gekommen ist, dürfen wir einen Teil dieser Geschichten werden. Und wenn das geschieht, ist es genau der Augenblick, an dem ein neues Wunder beginnt.
Prolog
Alles war dafür gemacht, zerstört zu werden oder verloren zu gehen. Zweifellos konnte diese Tatsache nicht die optimale Grundlage für ein erfülltes Menschenleben sein. In Zeiten der Ruhe und des besinnlichen Rückblicks offenbarte sie gar eine gewisse Sinnlosigkeit des eigenen Seins. Vornehmlich traf das für schwierige Lebensumstände zu, saß aber gleichermaßen im trügerischen Detail des Gewöhnlichen wie eine Spinne in ihrem Versteck, einem verlorengegangenen Notizzettel oder einer defekten Taschenlampe bei Stromausfall. Das Leben handelte vom Neubeginn und der Zerstörung. Seit Jahrmillionen hatte nichts anderes Bestand auf dieser Welt. Nur dominierte bei der jungen Emily der Zerfall, als würde er ihr nachstellen. Was sie anfasste, zerbrach unter ihren Händen.An diesem Abend dachte Emily viel nach und hatte die Idee, dass hinter dem Leben und all den Dingen auf der Welt eine größere Bedeutung stecken musste. Da ihr bisher niemand eine vernünftige Antwort darauf geben konnte, machte sie sich auf den Weg, um hinter das Geheimnis des Lebens zu kommen. Die Suche nach der Wahrheit dauerte Monate und Jahre, überschattete ihre ereignisreiche Jugend, bis sie im Sumpf der Erschöpfung ihr Ziel aus den Augen verlor. Und dann geschah etwas Furchtbares, das ihr Leben auf eine Weise ändern sollte, mit dem sie nie gerechnet hätte.-Nachdenklich legte Emily ihren schmalen Finger an die Lippen und sah zwischen den großen Eschen vorbei auf das blaue Meer hinaus. Die Sonne bildete schillernde Sternchen in ihrem dunkelrot gefärbten Haar. Sie musste blinzeln, nickte sanft und dachte an die alten Zeiten, als ihr Körper noch zu ihr gehörte, sie laufen konnte und nicht an den Rollstuhl gefesselt war.„Essen Sie etwas“, sagte die Schwester und riss sie damit aus den Gedanken. Sie hielt ihr einen Teller mit zwei belegten Brotscheiben und einem Apfel entgegen.Emily drehte ihren Kopf weg. Was spielte in ihrer Situation Essen für eine Rolle? Die Sonne blendete und es roch nach Pinienzapfen.„Nun machen Sie schon, Miss Emily Jensen. Sie brauchen Kraft für diesen herrlichen Tag.“Emilys Wangenknochen bebten und sie sah mit zusammengekniffenen Augen zu der Schwester.„Gib den Fraß den Leuten, die ein Leben haben“, sagte sie schnippisch und wartete auf ihre Reaktion.„Es gibt viele Menschen, die nicht laufen können und durchaus damit klarkommen. Ich kenne ausgezeichnete Künstler, Musiker und berühmte Maler, die trotz gewaltiger Einschränkung großartige Dinge erschaffen haben. Vergessen Sie nicht, dass es nur Ihre Beine sind. Das Leben ...“Emily unterbrach sie mit verschränkten Armen. „Hast du irgendetwas am Kopf, oder wieso kapierst du es nicht?“ Verachtend zeigte sie an sich herunter zu den Beinen, die nutzlos und seit dem speziellen Tag zu einer Last geworden waren.„Der Anfang ist immer schwer. Geben Sie die Hoffnung nicht auf. Und jetzt essen Sie ein wenig, dann machen wir Ihre Übungen. Vielleicht können Sie schon in ein paar Monaten wieder laufen.“ Die Schwester hielt ihr geduldig den Teller entgegen.„Wenn du mir wirklich helfen willst, schiebst du mich nach vorn.“ Emily zeigte zur Küste. „Einfach bis zur Klippe. Den Rest erledige ich selbst.“„Das werde ich gewiss nicht tun, junge Dame“, sagte die Schwester eindringlich und stellte den Teller auf Emilys Oberschenkeln ab. „Auch wenn Sie derzeit die Sonne in ihrem Herzen nicht spüren können, wärmt sie die Welt und wartet darauf, dass Sie wieder ihr Licht sehen. Das Leben geht weiter. Und es ist schön. Auch für Sie. Vertrauen Sie mir.Im Übrigen dreht sich nicht alles um Sie. Andere haben größere Probleme, also jammern Sie nicht herum. Ich lasse Sie jetzt alleine.“ Die Schwester wandte sich ab und eilte ohne einen weiteren Versuch, Emily umzustimmen, zur Klinik davon.„Du hast etwas vergessen!“, schrie Emily und warf ihr den Teller hinterher. Die ansprechend belegten Brote verteilten sich im Gras. Rollend überholte der Teller die Schwester, die sich aufgebracht zu ihr umdrehte.„Man sollte Ihnen den Hintern versohlen“, rief sie und sammelte den Teller und die Brotscheiben ein.„Dann komm doch, alte Schachtel! Versuche es nur“, brüllte Emily, ließ den Kopf hängen und fügte leise hinzu: „Dann wäre dieser Körperteil wenigstens zu etwas zu gebrauchen.“Sie wischte ein Stück Käse von der Hose, verschmierte ihn, zog einen Flunsch und bekam einen Wutanfall. Gefrustet rüttelte sie an dem lästigen Rollstuhl und keuchte: „Ich weiß, wann es vorbei ist.“ Emily atmete schwer durch.Die Luft war salzig und frisch und der Wind trug den Geruch von toten Fischen und Algen herüber. Ihr Magen knurrte, doch der Kummer war stärker als Hunger, und sie hatte den Entschluss gefasst, es jetzt zu Ende zu bringen.Mit dem Zeigefinger schob sie den kleinen Hebel auf Sitzhöhe des Rollstuhls nach vorn und die Räder waren frei. Kräftig stemmte sie sich gegen den Handlauf auf beiden Seiten. Die Wiese war flach und akkurat gemäht, aber mit den schmalen Rädern kam sie nur beschwerlich voran. Jeder einzelne Meter, mit diesem störrischen Teil verlangte enorme Kraft. Sie beugte sich vor, umfasste den Handlauf der Räder und steigerte verärgert den Schwung.Zwischen den Eschen und Mahonien verliefen große graue Gehwegplatten, die zu Holzbänken führten, die weiter vorne im Kreis angeordnet waren und im Schutz der alten Büsche des Öfteren heimlich von Rauchern genutzt wurden.Um diese Zeit waren die meisten Patienten bei Therapien oder in ihren Zimmern, weswegen der Park nahezu verlassen war. Nur ein alter Mann saß einsam dort auf einer Bank. Er hatte die Augen geschlossen, die Arme verschränkt und das Gesicht zur Sonne gereckt. Neben ihm lehnten zwei Krücken an der Bank und sein geschientes Bein stand sperrig ab.Emily brauchte eine Pause. Sie schüttelte ihre Arme aus.Der Typ hatte wenigstens noch ein gesundes Bein, und sie spürte nicht mal ihre Hüfte. Gewiss würde er es irgendwann schaffen, hatte eine Zukunft vor sich - er und die meisten anderen, die hier untergebracht waren.Sie verzog den Mund, schnaubte und rollte weiter, steckte die ganze Kraft ihres Oberkörpers in die Arme und bewegte die Räder, als wären sie Mühlsteine. Nach dem Plattenweg holperte sie mit dem Rollstuhl über die Grasnarbe bis nach vorn zum Geländer. Hier sah sie sich um. Diese Stelle hinter den Büschen konnte niemand vom Haupthaus einsehen, nicht einmal der Kerl mit dem geschienten Bein. So hatte sie genug Zeit, nach vorn zu kriechen und Abschied zu nehmen.Ungelenk ließ sich Emily aus dem Stuhl gleiten. Ohne die Kraft ihrer Beine war es unglaublich beschwerlich, den eigenen Körper zu bewegen und unter dem Geländer hindurchzuziehen. Früher brachte Emily nicht mal zwei ordentliche Liegestütze hintereinander zustande, und jetzt musste sie Höchstleistungen vollbringen.Keuchend und mit schmerzenden Muskeln in den Oberarmen fluchte und jammerte sie. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen und sie verteufelte jeden Zentimeter, den sie vor sich hatte. Und genau diese Tatsache verdeutlichte ihr jämmerliches Leben, die Sinnlosigkeit des Seins und das eines unvollständigen Menschen.Die scharfkantigen Steine schmerzten an den Handflächen und den Ellenbogen. Ein Schuh verhakte sich im Gestrüpp und hielt sie fest, wie eine Hand, die sie zurückhalten wollte. Verärgert zerrte sie am Hosenbein, griff unter ihr Kniegelenk und ruckte am Bein.„Verdammt!“, knirschte sie.Der Schuh blieb fest verhakt und ein halber Meter lag noch zwischen ihrem jämmerlichen Leben und der Erlösung. Entkräftet legte sie ihren Kopf auf den harten scharfkantigen Steinen ab, sammelte Kraft und spürte das Zusammenspiel der wärmenden Sonne und den Geräuschen der Welt mit den Wellen, die gegen die Brandung schlugen. Kreischende Möwen und das Rauschen der Blätter erreichten ihren Verstand sowie versöhnliche Düfte des Meeres garnierten ihre Wahrnehmung.Prinzipiell war die Welt gar nicht so übel. Nur leider war sie für andere gemacht, diejenigen, die ihre Portion vom Glück abbekommen hatten, ein kleines Haus, einen Lebenspartner und einen Job, den sie vielleicht sogar mochten. Auch Emily hatte ihre Zeit, aber diese war seit dem Unfall abgelaufen.Sie hob ihren Kopf, atmete tief durch und drehte sich auf die Seite, riss wieder an ihrem Bein und konnte den Fuß aus dem Schuh ziehen.Ihre Hände waren staubig und zerschnitten, und eine blutige Schramme in ihrem Gesicht schmerzte, als hätte sie einen schweren Kampf hinter sich.Sie schob sich weiter voran, erreichte den Felsvorsprung und hielt inne. Weit unten lagen dunkle nasse Felsen. Sie waren abgebrochen und ragten scharfkantig und hart wie furchteinflößende Zähne empor, die nach ihr zu lechzen schienen und ihr begierig zuwinkten. Zwölf Meter freier Fall sollten genügen. Schließlich waren die Dinge und das Leben selbst dafür gemacht, für immer verloren zu gehen.
Rezensionen
„Im
Nachhinein
beschäftigt
mich
das
Buch immer noch.“
Es ist eine wahnsinnig genial geschriebene Geschichte. Sie ist stimmig! Ich war hin und her gerissen zwischen: undankbare zickige Göre, und armes verzweifeltes Mädchen. Zwischen: er tut mir Leid und was ist sein Geheimnis? Irgendwas ist doch komisch.Und verdammt nochmal,warum will ihr niemand zuhören? Warum muss er ins Gefängnis?Und bevor ich zur anderen Seite der Medaille gewechselt hab, empfand ich das Ganze so ungerecht! Dann las ich Abends weiter. Und Fassungslosigkeit ergriff mich.Jetzt im Nachhinein beschäftigt mich das Buch immer noch. Ich komme mir fast vor, wie so ein Profiler. Versuche zu analysieren... Gab es versteckte Hinweise? Hab ich etwas überlesen?Das Buch ist so genial geschrieben! Niemals wäre ich auf das Ende gekommenen. Habe es nicht erwartet!Ich ziehe meinen imaginären Hut. (Steffi Eckhoff-Emme / Testleserbuch)
„Kolossale Wende“
Eine starke, sicher aktuelle und psychologisch wertvolle Geschichte. Ich bin sprachlos und ein bissel überwältigt. Die Spannung wurde zur kolossalen Wende mit ein paar erlösenden Tränen getoppt. (Karen Böttcher)
„Zuerst Zorn, dann Mitleid“
Anfangs packte mich regelrecht der Zorn auf das Mädchen. Mitleid mit dem älteren Mann, mitten drin bekam ich Mitleid mit dem Mädchen und fand den Mann dann irgendwie eigenartig. Zum Schluss hin hat sich das Blatt komplett gewendet.Ich habe nicht mit diesem Ende gerechnet und dachte es würde etwas anderes dahinter stecken, anders ausgehen.Das Buch ist wirklich lesenswert. Ich kann es nur empfehlen. (Estrella H FA)
„Überraschend
-
definitiv
zu
empfehlen!“
Orchideen im Wind war für mich eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Die Hauptcharaktere, Emily und William, werden detailreich beschrieben und sind sehr interessant. Emily erleidet einen Unfall, sitzt nun im Rollstuhl und muss erstmal lernen damit zurecht zu kommen. Ich möchte hier nicht zu viel verraten: Die Wendung im Buch kam für mich total unvorbereitet und überraschend. Für mich macht das ein gutes Buch aus! Zwischendurch dachte ich, es wäre ziemlich vorhersehbar was passieren würde. Aber nein. Es kam ganz anders als ich dachte. Es lohnt sich definitiv das Buch zu lesen! (CatLady)
„Das Ende verändert alles“
Emily durchlebt die Hölle, weigert sich zunächst, ihr Schicksal zu akzeptieren - doch die tatsächliche Entwicklung der Dinge und was sich wirklich erst am Ende abzeichnet, lässt den Leser perplex zurück. Ein interessantes Buch, ungewöhnlich, auch herausfordernd, auf alle Fälle lesenswert. (marreh)